Keine Opferentschädigung, wenn aggressive Reaktion provoziert wurde

Stuttgart/Berlin (DAV). Eine Opferentschädigung erhält nicht, wer die aggressive Reaktion selbst provoziert hat. Außerdem bedarf es dafür eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs mittels einer physischen Einwirkung auf das Opfer. Das Rechtsportal „anwaltauskunft.de“ informiert über eine Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. September 2022 (AZ: L 6 VG 1148/22). Kritik kommt von Sozialrechtsanwält:innen.

Die im August 1961 geborene, schwerbehinderte Klägerin beantragte im Mai 2019 Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Sie machte geltend, seit 2008 mit ihrem Ehemann verheiratet zu sein und bereits seit ihrem Einzug in sein Haus im August 1998 psychischen Stress mit ihm zu haben. Im Januar 2017 sei die Situation zu Hause völlig eskaliert.

Sie habe ihn an diesem Tag wieder damit konfrontiert, dass er psychisch sehr krank sei. Daraufhin sei er aggressiv und wütend geworden, habe sie angeschrien, dass er gesund sei, und sie beschimpft. Auch hätte er sie dreimal umgestoßen, wodurch sie glücklicherweise nicht verletzt worden sei. Sie erlebe ein 20jähriges Martyrium durch ihren Ehemann. Sie würde erniedrigt, beschimpft und erlebe Aggressivität. Der Angriff vom Januar 2017 sei der Gipfel der erlebten Gewalt durch ihren Ehemann gewesen. Kurz darauf habe sie fluchtartig die Wohnung verlassen und sei seitdem nicht mehr dorthin zurückgekehrt.

Die Frau erstattete zwei Wochen später Strafanzeige gegen ihren Mann.

Dieser schilderte die Situation bei der Staatsanwaltschaft wiederum anders. Er habe bereits im Sommer 2016 seiner Ehefrau mitgeteilt, dass er sich trennen wolle. Im Dezember 2016 habe er sie gebeten, sich eine eigene Wohnung zu suchen und aus seinem Haus auszuziehen. Auch habe sie sein Schlafzimmer als Rückzugsraum im Januar 2017 nicht akzeptiert, sondern mit ihm diskutieren wollen. Dabei hätte sie ihn auf sein Bett geschubst und sein Zimmer auch auf sein Bitten und weitere Aufforderungen hin nicht verlassen. Um sich gegen ihre weiteren Attacken zu wehren, habe er sie vor sich hergeschoben, um sie so aus seinem Schlafzimmer zu entfernen. Hierbei sei sie hingefallen. Er habe sich lediglich gegen die Nötigung durch seine Ehefrau verteidigt.

Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren ein. Es stehe letztlich Aussage gegen Aussage. Das Land lehnte eine Beschädigtenversorgung ab.

Auch beim Landessozialgerichts blieb die Frau erfolglos. Schon nach den Schilderungen der Frau selbst habe sie keine gesundheitliche Schädigung erlitten. Ihr Mann habe gegenüber der Staatsanwaltschaft ausführlich und ohne Belastungstendenzen geschildert, dass sie es gewesen sei, die nicht akzeptiert habe, dass er sich von ihr trennen und nicht mehr mit ihr habe sprechen wollen. Das Gericht berücksichtigte auch, dass die Frau selbst angegeben hatte, dass sie mit ihm über seine Krankheit habe reden wollen, und er daraufhin aggressiv geworden sei. Daher seien Entschädigungsansprüche auch wegen Unbilligkeit aufgrund ihres selbstgefährdenden Verhaltens ausgeschlossen. Da sie von seinem Trennungswunsch gewusst habe, habe es auch keinen sachlichen Grund gegeben, überhaupt ein Gespräch über seine vermeintliche Erkrankung zu initiieren.  

Auch die Angabe, jahrelang unter psychischer Gewalt ihres Ehemannes gelitten zu haben, änderte an der Entscheidung nichts. Für das OEG sei ein tätlicher Angriff erforderlich. Für die Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs reiche eine objektive Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit einer anderen Person ohne physische Einwirkung nicht aus. Denn nach dem gesetzgeberischen Willen sollten ausschließlich Fälle der sogenannten Gewaltkriminalität einbezogen werden, die durch körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person einhergehen. Die Frau habe im Ermittlungsverfahren aber selbst angegeben, dass es während der Ehe nur zu verbalen Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann gekommen sei.

Diese Art der Rechtsprechung wird nach Ansicht der Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) zu Recht kritisiert. Es wird der Eindruck erweckt, dass Frauen in Fällen häuslicher Gewalt „wegducken“ sollten. In Gewaltbeziehungen müsse immer klar sein, wer der Aggressor und wer das Opfer ist.

Informationen und eine Anwaltssuche: www.anwaltauskunft.de

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