Sozialrecht

PTBS eines Leichenumbetters ist nicht "wie eine Berufskrankheit" anzusehen

Berlin (DAV). Eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) eines Leichenumbetters ist nicht als sogenannte "Wie-Berufskrankheit" anerkannt. Dies entschied das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg am 27. April 2023 (AZ; L 21 U 231/19). Damit hat der Kläger keinen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, erläutert das Rechtsportal „anwaltauskunft.de“.

Der Kläger, geboren 1963, war von 1993 bis 2005 als Leichenumbetter beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. tätig. Er war in Mittel- und Osteuropa im Einsatz und verantwortlich für die Exhumierung und Identifizierung von Weltkriegstoten sowie von Toten der Jugoslawienkriege der 1990er Jahre. Seit 2005 war er aufgrund von Arbeitsunfähigkeit erkrankt und machte geltend, dass diese auf seine berufliche Tätigkeit zurückzuführen sei.

Die Berufsgenossenschaft verneinte den Anspruch des Klägers, seine Erkrankung einer Berufskrankheit gleichzustellen. Psychische Erkrankungen wie die PTBS seien nicht in der Liste der Berufskrankheiten aufgeführt.

Das Sozialgericht Potsdam folgte dieser Ansicht, eine Entscheidung, die nun vom Landessozialgericht bestätigt wurde.

Das Gericht betonte, dass die PTBS als Folge eines extrem bedrohlichen oder entsetzlichen Ereignisses oder einer Reihe solcher Ereignisse zu sehen sei. Dabei sei nicht die Berufsbezeichnung ausschlaggebend, sondern die konkreten Einwirkungen im Beruf. Zudem gäbe es laut dem Gericht keine wissenschaftlichen Belege für einen Zusammenhang zwischen den Tätigkeiten eines Leichenumbetters und der PTBS. Dass die Arbeit belastend sein kann, genüge nicht für eine Anerkennung "wie eine Berufskrankheit".

Informationen und eine Anwaltssuche: www.anwaltauskunft.de

Keine erneute Belehrungspflicht bei unveränderter Leistung

Bremen/Berlin (DAV). Bei der Fortsetzung der Unterstützung eines Jugendlichen als Hilfe für junge Volljährige ist keine erneute Belehrung über die Kostenbeteiligungspflicht erforderlich. Dies entschied das Verwaltungsgericht Bremen am 22. Mai 2023 (AZ: 3 K 1117/21). Dies betrifft auch die Aufklärung über die Folgen für die Unterhaltspflicht des Elternteils, erläutert die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV).

Der Fall drehte sich um einen Vater, dessen Sohn seit November 2015 in einer Einrichtung der Jugendhilfe lebte. Als der Sohn volljährig wurde, beantragte er die Fortsetzung der Hilfe. Der Vater wurde dann zu einer monatlichen Zahlung von 50 Euro für die Kosten der Hilfe herangezogen. Nachfolgend erfolgten verschiedene Anpassungen und Änderungen der Kostenbeteiligung, gegen die der Vater Widerspruch einlegte.

Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass bei einer Fortsetzung der Unterstützung in unveränderter Form über die Volljährigkeit hinaus keine erneute Belehrung erforderlich ist. Der Vater war bereits mit Schreiben vom 16. November 2015 ordnungsgemäß über die Kostenbeteiligung informiert worden.

Das Gericht merkte auch an, dass die Rechtmäßigkeit der Leistungsgewährung nicht zwingend Voraussetzung für die Erhebung eines Kostenbeitrages sei. In diesem Fall ergaben sich für das Gericht keine Anhaltspunkte für eine Rechtswidrigkeit der an den Sohn des Klägers gewährten Hilfeleistung.

Der Vater hatte bemängelt, dass er nicht mit einer rückwirkenden Erhöhung der Kostenbeteiligung rechnen musste. Das Gericht stellte jedoch fest, dass eine rechtlich verbindliche Zusage zur Beibehaltung des alten Betrags nicht vorlag. Daher war die nachträgliche Anpassung rechtmäßig.

Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Kosten für das Mittagessen in Werkstätten für Behinderte sind nicht Teil der Eingliederungshilfe

Stuttgart/Berlin (DAV). Das Mittagessen in Einrichtungen ist kein Bestandteil der Eingliederungshilfeleistungen. Soweit die Kosten des Mittagessens die Höhe des Mehrbedarfs nicht übersteigen, sind sie von der Pauschale gedeckt. Nur so weit die Kosten für die Herstellung und Bereitstellung hierdurch nicht gedeckt werden, sind sie der Eingliederungshilfe zugeordnet. Die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) informiert über ein Urteil des Landessozialgerichts Stuttgart vom 17. März 2022 (AZ: L 7 SO 4143/20).

Bei dem Kläger liegt ein Down-Syndrom vor. Er lebt auf Kosten des zuständigen beklagten Trägers der Eingliederungshilfe mit seiner Ehefrau in einer Einrichtung des Ambulant-betreuten-Wohnens. Er verlangte die Rückerstattung der Kosten für gemeinschaftliches Essen in einer Werkstatt für behinderte Menschen i.H.v. 64,60 Euro monatlich ab 01.01.2020, die der Kläger selbst getragen hatte.

Die Klage wurde abgewiesen. Das Landessozialgericht argumentierte, dass das Mittagessen nur dann der Eingliederungshilfe zuzuordnen sei, wenn die Kosten für die Herstellung und Bereitstellung durch die vorgesehene Pauschale nicht gedeckt seien. Dies sei hier aber der Fall.

Das Urteil könnte weitreichende Auswirkungen für die Praxis haben, so die DAV-Sozialrechtsanwält:innen. Sollten Mehrkosten, die über die Pauschale hinausgehen, entstehen, könnten diese durch eine Erhöhung des Regelbedarfs ausgeglichen werden. Darüber hinaus ist unklar, wie in Zukunft mit Abwesenheitstagen umgegangen wird, und wie die Formulierung "Arbeitstage" ausgelegt wird. Dies ist besonders relevant für die Berechnung der Pauschale.

Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Gebärdendolmetscher für gehörlose Schülerin

Stuttgart/Berlin (DAV). Ein gehörloses Kind hat auch in einer Schule für gehörlose und höreingeschränkte Schüler Anspruch auf Unterstützung durch einen Gebärdendolmetscher. Diese Assistenz ist dann Aufgabe der Eingliederungshilfe, in der Regel der Jugend- bzw. Sozialhilfe, und nicht der Schule. Die Schule ist hingegen für die Vermittlung des nach dem jeweiligen Bildungsplan vorgegebenen Lehrstoffs verantwortlich. Die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) informiert über eine Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 1. März 2023 (AZ: L 2 SO 204/23 ER-B).

Die 13-jährige gehörlose Schülerin besucht ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit Förderschwerpunkt Hören. Sie kommuniziert in der Deutschen Gebärdensprache (DGS). Allerdings sind nicht alle Lehrkräfte in ihrer Schule gleichermaßen gebärdenkompetent, häufig wird die Schülerin nicht verstanden. Hinzu kommt, dass die Lehrkräfte ihre eigenen lautsprachlichen Äußerungen und ggf. auch lautsprachliche Äußerungen der Mitschüler in DGS übersetzen müssen, damit die Antragstellerin sie versteht. Eine solche Doppelrolle als Gesprächsführer und Dolmetscher verzögert den Unterrichtsverlauf. Daher wurden lautsprachliche Äußerungen für die Antragstellerin nur zusammengefasst wiedergegeben. Dies erschwerte ihre Teilnahme am Unterricht.

Die Schülerin beantragte die Unterstützung durch einen Gebärdendolmetscher im Wege der Eingliederungshilfe.

Mit Erfolg: Das Landessozialgericht verpflichtete in einem Eilverfahren den Landkreis Reutlingen, ihr vorläufig 16 Stunden Assistenz durch einen Gebärdendolmetscher wöchentlich (zu einem voraussichtlichen Stundensatz von € 85,00) zu gewähren.

Die Übertragung lautsprachlicher Äußerungen, insbesondere anderer Schüler, durch einen Gebärdendolmetscher sei eine Aufgabe der Eingliederungshilfe und nicht der Schule. Das Dolmetschen gehöre nicht zum pädagogischen Kernbereich, der Wissensvermittlung, sondern sichere die eigentliche Arbeit der Lehrkraft nur ab. Es könne letztlich auch nicht verlangt werden, dass andere Schüler für die Antragstellerin dolmetschten.

Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Ärztehotline: Sozialversicherungspflicht im Homeoffice

Celle/Berlin (DAV). Arbeiten Ärzte für eine Beratungshotline, liegt auch dann eine abhängige Beschäftigung vor, wenn sie die Bereitschaftsdienste im Homeoffice wahrnehmen. Auch wenn eine ärztliche Eigenverantwortung im Rahmen der Behandlung vorliegt, ist die Tätigkeit sozialversicherungspflichtig. Die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) informiert über eine Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 20. Februar 2023 (AZ: L 2/12 BA 17/20).

Eine Rettungsmedizinerin kooperierte mit einem Unternehmen im Rahmen einer ärztlichen Notfallhotline für Taucher. Die Beratung per Hotline ist Teil des Unterstützungspakets einer Reise- und Auslandskrankenversicherung. Damit die Hotline ständig erreichbar ist, werden aus einem Pool jeweils zwei Ärzte pro Schicht eingeteilt. Ihre Tätigkeit üben sie dann meist aus ihrer häuslichen Umgebung (Homeoffice) aus. Dabei beantworten sie telefonische Kundenanfragen und können ggf. eine Behandlungskoordination übernehmen.

In einem Statusfeststellungsverfahren stufte die Deutsche Rentenversicherung (DRV) die Ärztin als abhängig beschäftigt ein. Das sahen das Unternehmen und die Ärztin anders; sie gingen von einer selbständigen Tätigkeit aus. Schließlich gebe es keine Verpflichtung zu Bereitschaftsdiensten. Die Telefonate habe sie überall führen können, wo eine ruhige Gesprächssituation gegeben sei. Die Intensität der Beratungen habe sie völlig frei gestalten können.

Das Landessozialgericht wies die Klage ab und bestätigte die DRV. Die Ärztin sei verpflichtet gewesen, unter dem Dach eines Rahmenvertrags für die Dauer der zugeteilten Schichten erreichbar zu sein. Auch habe sie die wirtschaftlichen Vorgaben des Unternehmens beachten müssen. Aus der ärztlichen Eigenverantwortung bei Heilbehandlungen könne nicht ohne Weiteres auf eine selbständige Tätigkeit geschlossen werden. Dadurch werde sie noch nicht zur Unternehmerin.

Auch die Tätigkeit im Homeoffice ließ das Gericht zu keiner anderen Bewertung kommen: „In Anbetracht der vielfältigen heutigen Möglichkeiten zur Arbeit im Homeoffice ist dies kein taugliches Abgrenzungskriterium mehr“. Bei abhängigen Tätigkeiten bestünden gerade im Homeoffice grundsätzlich weitgehende Freiheiten bei der Festlegung der Arbeitszeiten.

Informationen: www.dav-sozialrecht.de

„Hartz-IV“: Mietvertrag für Zimmer im Haus der Eltern - Keine höheren Unterkunftskosten

Osnabrück/Berlin (DAV). Schließt eine 15-jährige Schwangere mit ihrer Mutter einen Mietvertrag für ein Zimmer im elterliches Haus, ist dies schon unüblich, und es könnte ein sogenanntes „Scheingeschäft“ vorliegen. Dann muss das Jobcenter die Miete nicht an die Mutter zahlen. Ist der Mietvertrag auch noch ungültig, ist klar, dass das Jobcenter nicht verpflichtet ist, die vereinbarte Miete der Tochter zu übernehmen. Dies entschied das Sozialgericht Osnabrück am 25. August 2022 (AZ: S 16 AS 212/22 ER), wie das Rechtsportal „anwaltauskunft.de“ mitteilt. Allerdings erhielt die Tochter Leistungen für ihren Anteil an den Heiz- und Betriebskosten.

Die 15-jährige Antragstellerin (im Verfahren vertreten durch ihre Eltern) wohnt gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer Schwester in einem Einfamilienhaus der Eltern mit einer Wohnfläche von 151 m². Beim Jobcenter beantragte sie Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende („Hartz IV“) und verwies darauf, dass sie schwanger sei. Sie fügte einen Mietvertrag zwischen Mutter und Tochter (diese vertreten durch ihren Vater) bei, der auf den Tag der Antragstellung datiert war. Demnach wurde der Tochter ein 23 m² großes Zimmer des Einfamilienhauses sowie Küche und Bad zur Mitbenutzung zu einem Mietzins von 280,00 € zuzüglich Nebenkostenpauschale in Höhe von 100,00 € monatlich vermietet.

Das Jobcenter bewilligte der Tochter Grundsicherungsleistungen. Als Kosten der Unterkunft berücksichtigte es aber lediglich deren Anteil an den Betriebs- und Heizkosten des Hauses in Höhe von 102,00 € monatlich. Den Mietvertrag hielt die Behörde für rechtlich unwirksam. Demgegenüber machte die 15-Jährige geltend, dass der Mietvertrag wirksam sei. Es komme letztlich auch nicht auf die Wirksamkeit des Mietvertrages nach mietrechtlichen Vorschriften an.

Das sah das Sozialgericht anders und bestätigte die Entscheidung des Jobcenters. Der Tochter stünden keine höheren Unterkunftskosten zu. Dabei ließ es das Gericht offen, ob ein sogenanntes Scheingeschäft vorlag. Allerdings wies es dennoch auf die besonderen Umstände hin: Es sei unüblich, dass Eltern mit ihrer 15-jährigen Tochter einen Mietvertrag abschließen. Zudem wurde erst nach Kenntnis von der Schwangerschaft der schriftliche Vertrag geschlossen, auch sei die Miete vergleichsweise hoch. Bereits im Vertrag wurde eine Zahlung durch das Jobcenter vereinbart. Daher liege es nahe, dass der Vertrag vorrangig geschlossen worden sei, um Leistungen zu erlangen.

Allerdings sei schon der Mietvertrag an sich ungültig. So sei schon zweifelhaft, ob allein die Mutter den Mietvertrag schließen konnte, da das Haus im gemeinsamen Eigentum der Eltern stand. Der Mietvertrag sei aber insbesondere aufgrund der Minderjährigkeit der Tochter unwirksam, und der Vater habe die Tochter zumindest bei einem Vertrag mit seiner Ehefrau nicht wirksam vertreten können.

Informationen und eine Anwaltssuche: www.anwaltauskunft.de

Krankengeld trotz verspäteter Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung?

Chemnitz/Berlin (DAV). Damit man fortlaufend Krankengeld bekommt, sollte man die Arbeitsunfähigkeit lückenlos feststellen lassen. Die verzögerte ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit hat der Versicherte selbst zu verantworten, wenn er die Arztpraxis verlässt, weil sie ihm zu voll war, und er nicht warten wollte. Etwas anderes gilt, wenn die Praxis den Termin verschiebt. Dies entschied das Landessozialgericht Chemnitz am 26. Januar 2022 (AZ: L 1 KR 293/21).

Die Entscheidung beruhte noch auf der alten Rechtslage, informiert die Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV). Demnach haben Krankengeldbezieher, die nur noch kraft eines Krankengeldanspruches versichert sind, einen Monat länger Zeit, wenn es sich um dieselbe Krankheit handelt. Dies gilt jedoch nicht für die Versicherten, die wegen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses pflichtversichert sind. Dann gilt die „Fristverlängerung“ nicht, warnen die DAV-Medizinrechtsanwälte.

In dem vom Landessozialgericht entschiedenen Fall ging der Versicherte am Tag des Ablaufes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in die Praxis seiner Hausärztin. Weil diese völlig überfüllt war, hätte er mit erheblichen Wartezeiten rechnen müssen. Wegen seines Gesundheitszustandes (Schmerzen) wollte er sich das nicht zumuten und verließ die Praxis wieder. Am Folgetag war die Hausarztpraxis regulär geschlossen, die Arbeitsunfähigkeit wurde sodann am übernächsten Tag festgestellt.

Die Krankenkasse stellte die Krankengeldzahlung wegen der fehlenden lückenlosen Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit ein. Zu Recht stellte die Krankenkasse die Zahlung ein, bestätigte das Landessozialgericht. Der Patient sei selbst für die Verspätung verantwortlich. Der Untersuchungstermin sei nicht auf Betreiben der Arztpraxis verschoben worden. Auch habe es keinen Arzt-Patienten-Kontakt gegeben, der zu einer Bescheinigung führte. Mit der Ärztin kurz auf dem Flur gesprochen zu haben, reiche nicht aus. Ein Ausnahmetatbestand, etwa Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit, liege nicht vor. Auch habe der Versicherte nicht alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan, um rechtzeitig eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit zu erhalten. Eine Verschiebung des Termins durch die Praxismitarbeiter sei nicht erfolgt.

Informationen: www.dav-medizinrecht.de

Witwengeld nach acht Monaten Ehe

München/Berlin (DAV). Auch bei einer Ehe von nur acht Monaten Dauer kann die Witwe Anspruch auf Witwengeld haben. Über eine entsprechende Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Bayern vom 1. Juni 2022 (AZ: 14 B 20.1283) informiert die Arbeitsgemeinschaft Familienrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV).

Die Frau hatte ihren späteren zweiten Ehemann 2013 kennengelernt. 2014 zog sie bei ihm ein. Kurz darauf wurde bei dem Ruhestandsbeamten ein Karzinom diagnostiziert, da erfolgreich behandelt werden konnte. Nach der Scheidung der Frau reservierten sie und ihr Partner einen Hochzeitstermin für den 6. Juni 2016.

Ende Dezember 2015 wurden bei dem Mann Metastasen im Hirn diagnostiziert.

Im Januar 2016 gab das Paar beim Standesamt ihre Heiratsunterlagen ab. Bei dieser Gelegenheit teilte ihnen der Standesbeamte mit, dass sie sogleich heiraten könnten – das Paar entschied sich noch am selben Tag, das zu tun. Im August darauf starb der Mann.

Der Frau wurde Witwengeld verweigert. Es wurde eine Versorgungsehe vermutet, also eine Ehe, die nur oder überwiegend deswegen geschlossen wurde, um dem überlebenden Ehepartner eine Witwen- oder Witwerrente zu sichern. 

Vor Gericht hatte die Frau letztlich Erfolg. Die Richter gingen davon aus, dass das Paar vor allem aufgrund der inneren Verbundenheit und ihres Wunsches, als Ehepaar zusammenzuleben, heiratete. Die nicht-versorgungsorientierten Beweggründe hätten zumindest gleichgewichtig neben etwaigen Versorgungsaspekten bestanden. 

Als das Paar den Hochzeitstermin festlegte, hätten sich bei dem Mann laut behandelnder Ärzte keine Hinweise auf ein Fortbestehen der Tumorerkrankung mehr gefunden. Das spätere Ehepaar hätte also gerade nicht damit rechnen müssen, dass der Mann lebensbedrohlich erkrankt sein könnte. Darüber hinaus habe die Frau auch in der Zeit der ersten Erkrankung mit ihrem Partner weiterhin zusammengelebt und ihre Scheidung vorangetrieben. 

Vor diesem Hintergrund spreche die Tatsache, dass die Ehe nicht wenigstens ein Jahr gedauert habe, nicht gegen die Bewilligung von Witwengeld.

Information: www.dav-familienrecht.de

Keine Opferentschädigung, wenn aggressive Reaktion provoziert wurde

Stuttgart/Berlin (DAV). Eine Opferentschädigung erhält nicht, wer die aggressive Reaktion selbst provoziert hat. Außerdem bedarf es dafür eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs mittels einer physischen Einwirkung auf das Opfer. Das Rechtsportal „anwaltauskunft.de“ informiert über eine Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. September 2022 (AZ: L 6 VG 1148/22). Kritik kommt von Sozialrechtsanwält:innen.

Die im August 1961 geborene, schwerbehinderte Klägerin beantragte im Mai 2019 Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Sie machte geltend, seit 2008 mit ihrem Ehemann verheiratet zu sein und bereits seit ihrem Einzug in sein Haus im August 1998 psychischen Stress mit ihm zu haben. Im Januar 2017 sei die Situation zu Hause völlig eskaliert.

Sie habe ihn an diesem Tag wieder damit konfrontiert, dass er psychisch sehr krank sei. Daraufhin sei er aggressiv und wütend geworden, habe sie angeschrien, dass er gesund sei, und sie beschimpft. Auch hätte er sie dreimal umgestoßen, wodurch sie glücklicherweise nicht verletzt worden sei. Sie erlebe ein 20jähriges Martyrium durch ihren Ehemann. Sie würde erniedrigt, beschimpft und erlebe Aggressivität. Der Angriff vom Januar 2017 sei der Gipfel der erlebten Gewalt durch ihren Ehemann gewesen. Kurz darauf habe sie fluchtartig die Wohnung verlassen und sei seitdem nicht mehr dorthin zurückgekehrt.

Die Frau erstattete zwei Wochen später Strafanzeige gegen ihren Mann.

Dieser schilderte die Situation bei der Staatsanwaltschaft wiederum anders. Er habe bereits im Sommer 2016 seiner Ehefrau mitgeteilt, dass er sich trennen wolle. Im Dezember 2016 habe er sie gebeten, sich eine eigene Wohnung zu suchen und aus seinem Haus auszuziehen. Auch habe sie sein Schlafzimmer als Rückzugsraum im Januar 2017 nicht akzeptiert, sondern mit ihm diskutieren wollen. Dabei hätte sie ihn auf sein Bett geschubst und sein Zimmer auch auf sein Bitten und weitere Aufforderungen hin nicht verlassen. Um sich gegen ihre weiteren Attacken zu wehren, habe er sie vor sich hergeschoben, um sie so aus seinem Schlafzimmer zu entfernen. Hierbei sei sie hingefallen. Er habe sich lediglich gegen die Nötigung durch seine Ehefrau verteidigt.

Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren ein. Es stehe letztlich Aussage gegen Aussage. Das Land lehnte eine Beschädigtenversorgung ab.

Auch beim Landessozialgerichts blieb die Frau erfolglos. Schon nach den Schilderungen der Frau selbst habe sie keine gesundheitliche Schädigung erlitten. Ihr Mann habe gegenüber der Staatsanwaltschaft ausführlich und ohne Belastungstendenzen geschildert, dass sie es gewesen sei, die nicht akzeptiert habe, dass er sich von ihr trennen und nicht mehr mit ihr habe sprechen wollen. Das Gericht berücksichtigte auch, dass die Frau selbst angegeben hatte, dass sie mit ihm über seine Krankheit habe reden wollen, und er daraufhin aggressiv geworden sei. Daher seien Entschädigungsansprüche auch wegen Unbilligkeit aufgrund ihres selbstgefährdenden Verhaltens ausgeschlossen. Da sie von seinem Trennungswunsch gewusst habe, habe es auch keinen sachlichen Grund gegeben, überhaupt ein Gespräch über seine vermeintliche Erkrankung zu initiieren.  

Auch die Angabe, jahrelang unter psychischer Gewalt ihres Ehemannes gelitten zu haben, änderte an der Entscheidung nichts. Für das OEG sei ein tätlicher Angriff erforderlich. Für die Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs reiche eine objektive Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit einer anderen Person ohne physische Einwirkung nicht aus. Denn nach dem gesetzgeberischen Willen sollten ausschließlich Fälle der sogenannten Gewaltkriminalität einbezogen werden, die durch körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person einhergehen. Die Frau habe im Ermittlungsverfahren aber selbst angegeben, dass es während der Ehe nur zu verbalen Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann gekommen sei.

Diese Art der Rechtsprechung wird nach Ansicht der Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) zu Recht kritisiert. Es wird der Eindruck erweckt, dass Frauen in Fällen häuslicher Gewalt „wegducken“ sollten. In Gewaltbeziehungen müsse immer klar sein, wer der Aggressor und wer das Opfer ist.

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lPosttraumatische Belastungsstörung bei Bahnmitarbeiter durch Erleben eines Gleissuizids

 

Darmstadt/Berlin (DAV). Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) kann nach dem Erleben eines Gleissuizids bei einem Bahnmitarbeiter vorliegen. Daher muss die gesetzliche Unfallversicherung die PTBS als Unfallfolge und damit als Arbeitsunfall anerkennen. Das Rechtsportal „anwaltauskunft.de“ informiert über eine Entscheidung des Hessischen Landessozialgericht vom 2. Juni 2022 (AZ: L 3 U 146/19).

Ein 52-jähriger Kundendienstmitarbeiter der Deutschen Bahn gab am Bahnsteig einem Mann Auskunft. Der Mann rannte dann aber vor den Zug. Nachdem der angefahrene Zug gestoppt hatte, fand der Mitarbeiter den zweigeteilten Leichnam.

Nach einer kurzen Arbeitsunfähigkeit nahm der Mitarbeiter seine Tätigkeit zunächst wieder auf. Er litt aber an Flashbacks, Albträumen und Schlafstörungen. Die ihn später behandelnden Fachärzte und Psychotherapeuten diagnostizierten eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Der mittlerweile voll erwerbsgeminderte Versicherte beantragte gegenüber der Unfallversicherung Bund und Bahn die Anerkennung als Arbeitsunfall.

Die Unfallversicherung stellte als Unfallfolge aber nur eine vorübergehende akute Belastungsreaktion fest. Sie bestritt, dass die aktuellen Beschwerden des Klägers etwas mit dem Unfall zu tun hätten. Sie seien vielmehr unfallunabhängig. Gegen eine PTBS als Folge des Unfalls spreche, dass der Versicherte zunächst lediglich zwei Wochen arbeitsunfähig gewesen sei und danach weitergearbeitet habe. Auch habe der Versicherte weitere Schicksalsschläge erlitten, die ebenfalls als Ursachen zu berücksichtigen seien.

Der Mann war mit seiner Klage erfolgreich. Das Landessozialgericht verurteilte die Unfallversicherung, eine PTBS als weitere Unfallfolge und damit als Arbeitsunfall anzuerkennen. Die Diagnosekriterien einer PTBS seien erfüllt. Das Unfallereignis sei ein objektiv schwerwiegendes Ereignis. Außerdem leide der Mann unter Flashbacks und Albträumen. Auch vermeide der Kläger Orte, die mit dem traumatischen Erlebnis verbunden seien, insbesondere Bahnhöfe und Bahnsteige.

Ohne den Vorfall würde der Mitarbeiter nicht an der PTBS leiden. Den konkurrierenden Ursachen - Tod des Bruders und weitere Schicksalsschläge - kämen keine überragende Bedeutung zu, wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend dargelegt habe. Der Bruder des Versicherten sei erst ein Jahr nach dem Arbeitsunfall gestorben.

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