Sozialrecht

Keine Vollwaisenrente bei Tod der Pflegeeltern

Essen/Berlin (DAV). Solange noch die leiblichen Eltern leben, hat ein Pflegekind nach dem Tod der Pflegeeltern keinen Anspruch auf Vollwaisenrente. Auch dann nicht, wenn es bereits Halbwaisenrente nach dem Tod eines Pflegeelternteils erhalten hat. Nur wenn kein (theoretischer) Anspruch gegen unterhaltsverpflichtete Elternteile mehr besteht, kann Vollwaisenrente verlangt werden. Dies entschied das Landessozialgericht NRW (LSG) im Urteil vom 14.06.2022 entschieden (L 14 R 693/20), wie das Rechtsportal „anwaltauskunft.de“ informiert.

Der Kläger kam nach der Geburt zu Pflegeeltern. Seine leiblichen Eltern leben noch. Nach dem Tod des Pflegevaters gewährte ihm der Rentenversicherungsträger eine Halbwaisenrente. Nachdem die Pflegemutter starb, beantragte er eine Vollwaisenrente. Gegen den ablehnenden Bescheid klagte der Mann.

Das Landessozialgericht wies die Klage ab. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Vollwaisenrente. Nur wer keinen Elternteil mehr habe, der - ungeachtet der wirtschaftlichen Verhältnisse - unterhaltspflichtig sei, könne Vollwaisenrente beanspruchen. In diesem Sinne sei der Kläger keine Vollwaise, schließlich würden seine - dem Grunde nach unterhaltspflichtigen - leiblichen Eltern noch leben. Es entspreche erkennbar nicht dem gesetzgeberischen Willen, dass Pflegekinder nach Versterben beider Pflegeelternteile sowohl ein Anspruch auf Vollwaisenrente als auch grundsätzlich ein Unterhaltsanspruch gegen die leiblichen Eltern zustünden. Damit wären sie im Gegensatz zu Kindern, die bei ihren Eltern leben, doppelt abgesichert.

Informationen und eine Anwaltssuche: www.anwaltauskunft.de

Das Rechtsportal anwaltauskunft.de ist eine Leistung des Deutschen Anwaltvereins (DAV).

Krankenkasse muss teure maßgefertigte Prothese aus Silikon zahlen

Darmstadt/Berlin (DAV). Hilfsmittel für Behinderte sollen deren Nachteile ausgleichen. Man hat aber auch dann einen Anspruch gegen die gesetzliche Krankenversicherung, wenn das Hilfsmittel die Funktionsausfälle nur teilweise ausgleicht. Eine Versicherte mit Teilhandverlust bekam eine individuelle Finger-Handprothese aus Silikon zugesprochen. Es reicht, wenn die Greiffähigkeit funktionell verbessert wird. Auf die Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts vom 23. September 2021 (AZ: L 8 KR 477/20) weist die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) hin.

Bei der 34-jährigen Klägerin war seit Geburt die linke Hand fehlgebildet. Aufgrund operativer Maßnahmen lag ein teilweiser Verlust der Hand vor. Der Mittelfinger fehlte komplett, Daumen, Zeige- und Ringfinger waren nur zur Hälfte vorhanden. Die als Arzthelferin tätige Frau ist Rechtshänderin. Ihr wurde eine individuelle Finger-Handprothese aus Silikon verordnet (Kosten rund 17.600 €). Die Krankenversicherung lehnte dies ab, es bestünde keine medizinische Notwendigkeit. Auch gleiche die Prothese keine verloren gegangenen oder eingeschränkten Funktionen der fehlgebildeten Hand aus. Sie habe keine Gelenke und sei vollständig unbeweglich. Aus Sicht der Krankenversicherung sollten vor allem Teile der linken Hand möglichst naturgetreu und ästhetisch nachgebildet werden.

Das Gericht gab der Klage statt. Es stellte fest, dass ein erheblicher Behinderungsausgleich durch die Prothese erfolgt. Die Krankenkasse wurde zur Versorgung mit der Finger-Handprothese verpflichtet. Damit könne die Frau die erheblich herabgesetzte Funktionsfähigkeit der linken Hand teilweise ausgleichen. Laut eines Sachverständigen könnte mit der Silikonprothese aufgrund der erhaltenen Beweglichkeit in den Grundgelenken eine deutliche funktionelle Verbesserung der Greiffunktionen der linken Hand herbeigeführt werden. Die Elastizität des Silikons ermögliche das Greifen größerer Gegenstände, soweit diese nicht allzu schwer seien. Auch könnten der Pinzetten-, Zangen-, Dreipunkt- und Schlüsselgriff verbessert werden. Dies gelte gleichermaßen für die Arbeiten mit Computertastatur und Computermouse, Trackball und berührungsempfindlichen Bildschirmen. Dadurch könne sie auch Handy und Telefon halten, so dass sie mit ihrer rechten Hand leichter Daten eingeben könne.

Ein anderslautendes Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) sah das Gericht als nicht maßgebend an. Dieses sei lediglich nach Aktenlage und nur auf der Basis von Fotos der betroffenen Hand erstellt worden. Da hier also nicht lediglich die Ästhetik im Vordergrund stehe, habe die Frau diesen Anspruch.

Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Kein Elektrorollstuhl für Blinde bei „MS“?

Celle/Berlin (DAV). Multiple-Sklerose (MS)-Patienten haben Anspruch auf einen Elektrorollstuhl. Dieser darf ihnen auch nicht wegen Blindheit verweigert werden. So entschied das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen am 4. Oktober 2021 (AZ: L 16 KR 423/20), wie die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) informiert.
Der 57-jährige Mann leidet an MS, in deren Folge konnte er immer schlechter gehen. Zunächst hatte er einen Greifreifen-Rollstuhl. Im Jahr 2018 verschlimmerte sich die Krankheit, und ein Arm wurde kraftlos. Den Rollstuhl konnte er seitdem nur noch mit kleinen Trippelschritten bewegen. Daher beantragte er bei seiner Krankenkasse einen Elektrorollstuhl. Diese lehnte den Antrag ab, da der Mann blind und damit nicht verkehrstauglich sei. Auch bei einem Elektrorollstuhl führe Blindheit generell zu einer fehlenden Eignung. Eine Eigen- und Fremdgefährdung bei Blinden könne nicht ausgeschlossen werden. Dafür könne und wolle die Kasse nicht haften.
Der Mann hingegen meinte, er habe sich mit dem Langstock schon früher gut orientieren können. Das habe er nun auch im Elektrorollstuhl trainiert. Einen Handrollstuhl könne er nicht mehr bedienen. Ohne fremde Hilfe könne er das Haus sonst nicht mehr verlassen.
Das Landessozialgericht verpflichtete die Krankenkasse, einen Elektrorollstuhl zu gewähren. Es sei inakzeptabel, wenn der Mann auf die behelfsmäßige Fortbewegung mit dem bisherigen Rollstuhl verwiesen werde. Sehbeeinträchtigungen seien kein genereller Grund, eine Verkehrstauglichkeit bei Elektrorollstühlen abzulehnen. Auch das Argument der Gefährdung überzeugte das Gericht nicht. Etwaige Restgefährdungen seien dem Bereich der Eigenverantwortung zuzuordnen und in Kauf zu nehmen. Zentrale Bedeutung bei der Entscheidung hatte der neue, dynamische Behindertenbegriff. Es sei die Aufgabe des Hilfsmittelrechts, dem Behinderten ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und nicht, ihn von sämtlichen Lebensgefahren fernzuhalten und ihn damit einer weitgehenden Unmündigkeit anheimfallen zu lassen.Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Stadt muss Kosten für Lebensunterhalt und Unterkunft im Frauenhaus tragen

Stuttgart/Berlin (DAV). Im Rahmen der Sozialhilfe haben Betroffene Anspruch darauf, dass die Kosten für den Lebensunterhalt und die Unterkunft in einem Frauenhaus übernommen werden. Die Kosten muss der Sozialhilfeträger übernehmen, in deren Stadt oder Landkreis sich das Frauenhaus befindet; nicht derjenige aus dem Ort, woher die Betroffenen zogen. Dies ergibt sich aus einer Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. März 2021 (AZ: L 7 SO 3198/19).

In dem von der Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) mitgeteilten Fall suchten die 1982 geborene Klägerin und ihr 2008 geborener Sohn Zuflucht in einem Frauenhaus in Tübingen. Dort schloss die Mutter einen Mietvertrag über ein Zimmer zu einer täglichen Bruttomiete von rund 20 €. Zunächst bezogen sie und ihr Sohn „Hartz IV“. Seit April 2017 bezog die Frau eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung von monatlich rund 566 EUR. Vorher wohnten sie im Zollernalbkreis.

Die Stadt Tübingen meinte, nicht der Sozialhilfeträger zu sein. Sie verwies die Frau auf die aus ihrer Sicht bestehende örtliche Zuständigkeit des Zollernalbkreises. Dieser sei für die Gewährung von ergänzenden Sozialhilfeleistungen zuständig. Vor Aufnahme in dem Frauenhaus habe sie dort ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt gehabt. Der Zollernalbkreis lehnte seinerseits den Antrag der Mutter auf Gewährung von Sozialhilfe ab. Seit ihrem Umzug in das Frauenhaus sei die Stadt Tübingen als örtlicher Sozialhilfeträger zuständig.

Das Gericht beendete dieses Zuständigkeitsmikado: Zuständig sei nunmehr die Stadt Tübingen.

Für die Erbringung der Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt sei die Kommune zuständig, in deren Bereich sich die Betroffenen tatsächlich aufhielten. Es würden auch nicht die Sonderregelungen bei stationärer Leistung oder ambulant betreutem Wohnen greifen. Nur dann sei der Sozialhilfeträger zuständig, wo die Antragsteller vorher wohnten. Mit der Unterbringung im Frauenhaus erhielten sie keine „stationäre Leistung“. Das Angebot eines Frauenhauses sei nicht auf die „Versorgung“ der Frauen innerhalb der Räumlichkeiten, sondern auf den nach Außen gerichteten Schutz vor Bedrohung angelegt. In dem Frauenhaus in Tübingen wären die Frau und ihr Sohn für ihre Versorgung vollständig selbst verantwortlich. Sie hätten im Frauenhaus auch keine Leistungen in Form ambulanter betreuter Wohnmöglichkeiten bezogen.

Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Unterkunftskosten bei Hartz IV: Dürfen Jobcenter eigenständig berechnen?

Saarbrücken/Berlin (DAV). Empfänger von "Hartz IV" können auch einen Anspruch auf Unterkunftskosten haben. Bei der Berechnung dürfen Jobcenter die Ansprüche nicht gemäß ihrer selbst erstellten Konzepten kürzen und auf die dabei errechneten Grenzwerte beschränken ("Grundsicherungsrelevante Mietspiegel"). Das Rechtsportal anwaltauskunft.de informiert über mehrere Entscheidungen des Sozialgerichts Saarland vom 22. Februar 2021 (AZ: S 21 AS 821/19).

Mehrere Jobcenter gewährten Unterkunftskosten für Hartz-IV-Empfänger nur nach einem von ihnen selbst erstellten Konzept. Die angemessene Höhe der Kosten hatten die Jobcenter selbst festgelegt. Dagegen haben die Kläger vor dem Sozialgericht für das Saarland erfolgreich geklagt.

Diesem System machte das Sozialgericht ein Ende. Es stellte fest, dass dieses und ihre Fortschreibungen nicht den Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprechen und damit „nicht schlüssig“ sind. Das Vorgehen der Jobcenter, Vergleichsräume mittels eines sogenannten „clusteranalytischen Verfahrens“ zu bilden, sei nicht mit den Entscheidungen des Bundessozialgerichts vereinbar. Dies hat zur Folge, dass zur Ermittlung der angemessenen Unterkunftskosten grundsätzlich die Tabellenwerte nach dem Wohngeldgesetz zuzüglich eines Sicherheitszuschlags von 10 % und damit regelmäßig höhere Werte heranzuziehen sind.

Grundsätzlich bleibe es möglich, darüber hinaus gehende Unterkunftskosten zu übernehmen. Voraussetzung sei, dass die leistungsberechtigte Person tatsächlich keinen Wohnraum zu diesem Wert gefunden hat.

Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Krankenkasse muss Spracherkennung für Förderschülerin übernehmen

Celle/Berlin (DAV). Behinderte Kinder haben einen Anspruch gegen die gesetzliche Krankenkasse, bei Bedarf mit einer Spracherkennung ausgestattet zu werden. Damit soll die Schulfähigkeit gesichert werden. Dies ergibt sich aus einer Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 1. April 2021 (AZ: L 4 KR 187/18). Betroffene müssen sich nicht auf den Schulträger verweisen lassen, erläutert die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV). Der Anspruch kann sich auch auf die für die Allgemeinheit entwickelte Software ‚Dragon‘ erstrecken.

Die Eltern einer damals neunjährigen Förderschülerin, die an spastischen Lähmungen leidet, klagten gegen die gesetzliche Krankenkasse. Nur unter größter Anstrengung konnte die Tochter einen Stift halten und schreiben. Im Jahre 2016 beantragten die Eltern u.a. eine Computerausstattung mit dem Programm ‚Dragon Professional‘ für Schüler für 595 €. Die Kasse lehnte den Antrag ab. Bei der Software handele es sich um ein Produkt für die Allgemeinbevölkerung und nicht um ein Hilfsmittel für Behinderte. Für sogenannte „Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens“ sei die Krankenkasse nicht zuständig. Außerdem könne das Mädchen die Spracherkennung unter Microsoft-Windows nutzen. Für die barrierefreie Ausstattung von Schulen sei der Schulträger und nicht die Krankenkasse zuständig.

Die Eltern hielten die betreffende Software für ein wichtiges Hilfsmittel, da längere Schreibaufgaben bisher von einer Integrationskraft übernommen wurden.

Die Klage ist erfolgreich. Das Gericht verurteilte die Krankenkasse zur Erstattung der Kosten. Zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenkassen gehöre auch die Herstellung und Sicherung der Schulfähigkeit. Benötige ein Schüler aufgrund einer Behinderung ein Hilfsmittel, um am Unterricht teilnehmen oder die Hausaufgaben erledigen zu können, habe die Kasse dieses Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen. Das Gericht betonte auch, dass bei Kindern ein großzügigerer Maßstab anzulegen sei. So könne deren weiterer Entwicklung Rechnung getragen werden. Daher könne die Software hier als Hilfsmittel für Behinderte bewertet werden, das der Integration diene. Das Mädchen könne auch nicht auf die Spracherkennung von Microsoft-Windows verwiesen werden, da diese jedenfalls 2016 noch nicht ausreichend entwickelt war. Das Gericht betonte, dass der Schulträger für die Versorgung nicht zuständig sei.

Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Kein Zwang zum Heimwechsel aufgrund Behinderung

Celle/Berlin (DAV). Behinderte Pflegeheimbewohner müssen nicht gegen ihren Willen in eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung wechseln. Wird die Unterstützung für das Pflegeheim eingestellt, übt das Sozialamt unzulässigen Druck aus. Das Rechtsportal anwaltauskunft.de informiert über eine Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 03. Mai 2021 (AZ: L 8 SO 47/21 B ER).

In dem Eilverfahren des 52-jährigen schwerbehinderten und pflegebedürftigen Klägers ging es um die weitere Unterstützung des Pflegeheimplatzes. Dort lebte er seit Februar 2019. Da sein Einkommen die Heimkosten nicht deckte, übernahm dies zunächst das zuständige Sozialamt. Dieses teilte dem Mann jedoch im Oktober 2020 mit, dass eine Betreuung in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung bei seinen Einschränkungen geeigneter sei. Die derzeitige Unterstützung stellte das Sozialamt ein. Er solle stattdessen einen Antrag bei dem für Eingliederungshilfe zuständigen Landschaftsverband stellen.

Der Mann wollte aber nicht wechseln. Er fühlte sich in der bisherigen Einrichtung gut versorgt. Vielmehr befürchtete er, dass die erforderliche pflegerische Versorgung in einer anderen Einrichtung nicht ausreichend gewährleistet sei, und sich seine angegriffene Psyche verschlechtern könnte. So habe er schon mehrfach aus Überforderung Essen und Untersuchungen verweigert. Andere Behinderteneinrichtungen hätten ihn wegen des hohen Pflegebedarfs abgelehnt. Ohne die jetzt eingestellte Unterstützung des Sozialamts drohe ihm die Kündigung des Pflegeheimplatzes.

Der Mann ist gegen das Sozialamt erfolgreich. Es muss weiterhin die Unterbringung in dem Pflegeheim übernehmen. Das Gericht stellte sich auch gegen das Argument der Eingliederungshilfe für den Mann. Für dieses Recht sei die Wahrung von Menschenwürde und Selbstbestimmung von wesentlicher Bedeutung. Er könne selbst entscheiden, ob er die Leistungen der Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen wolle. So gingen Autonomie, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung behinderter Menschen vor vermeintlich besseren Hilfsangeboten. Auch werde der Pflegebedarf des Mannes in dem derzeit bewohnten Heim gedeckt. Deshalb habe er weiterhin Anspruch auf Übernahme der ungedeckten Heimkosten. Mit der Verweigerung der bisherigen Unterstützung habe das Sozialamt unzulässig Druck ausgeübt.

Nach Ansicht der Sozialrechtsanwälte konnte verhindert werden, dass der Mann im Zuständigkeitsmikado hängen blieb. Letztlich ging es auch um die Frage, ob das Sozialamt oder der Landschaftsverband die Kosten tragen muss. Betroffene dürfen aber deshalb nicht durch das Netz fallen.

Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Kein Arbeitsunfall bei Sturz auf dem Weg ins Homeoffice

Essen/Berlin (DAV). Ein Arbeitsunfall kann sich auf dem Weg zur Arbeit und auf dem Weg nach Hause ereignen. Es liegt aber kein Wegeunfall vor, wenn man morgens auf dem Weg von seinen privaten Wohnräumen zur Arbeitsaufnahme in seinem Homeoffice auf der innerhäuslichen Treppe verunglückt. Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung bleibt versagt. Dies hat das Landessozialgericht Essen am 09. November 2020 (AZ: L 17 U 487/19) entschieden, wie das Rechtsportal anwaltauskunft.de mitteilt.

Der Kläger arbeitet als Gebietsverkaufsleiter seit mehreren Jahren im Außendienst. Regelmäßig ist er auch im Homeoffice tätig. Im September 2018 stürzte der Kläger auf dem Weg von den Wohnräumen in seine Büroräume eine Wendeltreppe hinunter. Er erlitt einen Brustwirbeltrümmerbruch. Die Berufsgenossenschaft lehnte Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab. Es liege kein Arbeitsunfall vor. Der Sturz habe sich im häuslichen Bereich und nicht auf einem versicherten Weg ereignet.

Nachdem er in erster Instanz noch erfolgreich ist, scheitert der Kläger beim Landessozialgericht. Die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalles lägen nicht vor. Der vom Kläger zurückgelegte Weg sei nicht als versicherter Betriebsweg zu werten und somit nicht unfallversichert.

Bei der Wegeunfallversicherung beginne der Versicherungsschutz erst mit dem Durchschreiten der Haustür des Gebäudes. Ein im Homeoffice Tätiger könne niemals innerhalb des Hauses bzw. innerhalb der Wohnung auf dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit wegeunfallversichert sein.

Die Annahme eines Betriebsweges lehnte das Gericht ab. Der Kläger habe sich auf dem Weg in sein Arbeitszimmer zur erstmaligen Aufnahme seiner versicherten Tätigkeit am Unfalltag befunden. Es handele sich bei Betriebswegen um Strecken, die in Ausübung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt würden. Vor- und Nachbereitungshandlungen der versicherten Arbeitsleistungen fielen nicht darunter.

Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Fahrradunfall als Arbeitsunfall einer ehrenamtlichen Pflegekraft?

Stuttgart/Berlin (DAV). Bei einem Arbeitsunfall ist von Bedeutung, was man besorgen wollte. Eine ehrenamtliche Pflegekraft, die für ihre zu pflegenden Eltern Nahrungsmittel und Medikamente besorgt hatte, steht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Stürzt sie auf dem Rückweg mit dem Fahrrad und verletzt sich, liegt ein Arbeitsunfall vor. Dies ergibt sich aus einer Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Dezember 2020 (AZ: L 1 U 1664/20), wie die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) mitteilt.

Die Klägerin pflegte ihre Eltern und war bei der Pflegekasse angemeldet. Bei einem befreundeten Arzt besorgte sie mit dem Fahrrad sowohl ein Schmerzmedikament für ihren Vater als auch eine kleine Menge Wildfleisch. Sie stürzte auf dem Rückweg und verletzte sich am linken Knie. Der Heilungsverlauf gestaltete sich schwierig, womöglich mit erheblichen bleibenden Schäden. Unmittelbar nach dem Unfall gab die Frau in ihrem Antrag gegenüber der Unfallkasse an, die Fahrradfahrt habe sowohl der Medikamenten- als auch der Nahrungsmittelbeschaffung gedient. In einem Gespräch mit einem Mitarbeiter der Unfallkasse rückte sie auf Nachfrage das Schmerzmittel in den Vordergrund. Das Fleisch habe sie bei dieser Gelegenheit nur mitgenommen. Die Unfallkasse lehnte daraufhin die Anerkennung als Arbeitsunfall ab. Eine ehrenamtliche Pflegeperson sei nur bei der Besorgung von Nahrungsmitteln, nicht jedoch von Medikamenten unfallversichert.

Der Unfall ereignete sich bereits 2008. Der Rechtsstreit zog sich über mehrere Jahre hin. Es fanden mehrere Verhandlungen vor dem Sozialgericht, dem Landessozialgericht und (wegen Verfahrensfragen) auch vor dem Bundessozialgericht statt. Es wurde darum gestritten, ob im Vordergrund der Fahrt die Besorgung der Medikamente oder der Lebensmittel stand. Weiterhin darüber, ob das Wildfleisch wirklich für die zu pflegenden Eltern bestimmt und für die Versorgung derselben erforderlich war.

Das Sozialgericht gab der Frau Recht: Die (unstreitig unfallversicherte) Besorgung des Fleisches sei der wesentliche Zweck der Fahrradfahrt gewesen.

Das Landessozialgericht bestätigte die Entscheidung und verurteilte die Unfallkasse dazu, den Fahrradunfall als versicherten Arbeitsunfall anzuerkennen.

Es kam dem Gericht aber nicht darauf an, welche Tätigkeit im Vordergrund gestanden hatte. Es wäre kaum möglich, bei einer solchen Fahrt verschiedene „Handlungstendenzen“ gegeneinander abzugrenzen. Auch dass die Frau zeitweise angegeben hatte, die Besorgung der Medikamente sei Hauptzweck gewesen, gereiche ihr nicht zum Nachteil. Sie habe dies wohl angegeben, weil aus Laiensicht eher die Besorgung von Medikamenten versichert sei als die Nahrungsmittelbesorgung.

Der Lebenswirklichkeit hätten ihre allerersten Angaben in ihrem Antrag bei der Unfallkasse entsprochen, dass sie beide Zwecke verfolgt habe. Die Nahrungsmittelbeschaffung habe auch nicht im Vordergrund stehen müssen. Denn auch bei der Besorgung von Schmerzmitteln handele es sich um eine unfallversicherte Tätigkeit einer Pflegeperson. Daher sei es auf die Frage der Handlungstendenz nicht mehr angekommen. Letztlich zeigt das Ergebnis dieser rechtlichen Odyssee aber, dass es sich lohnen kann, hartnäckig zu sein, so die DAV-Sozialrechtsanwälte.

Information: www.dav-sozialrecht.de

Grenzen für Kostenbeitrag bei Einkommen behinderter Menschen

Leipzig/Berlin (DAV). Ein Jugendhilfeträger kann zwar grundsätzlich auch von jungen Erwachsenen einen Kostenbeitrag verlangen. Dient die Tätigkeit aber dem Zweck der Jugendhilfe, wie etwa in einer Werkstatt für behinderte Menschen, hat dies Grenzen. Es muss mit Ermessen entschieden werden, ob die Erhebung eines Kostenbeitrags ganz oder teilweise entfallen kann. Das Rechtsportal „anwaltauskunft.de“ informiert über eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Dezember 2020 (AZ: 5 C 9.19).

Die 1993 geborene Klägerin hat einen höheren Grad der Schwerbehinderung. Seit Dezember 2014 arbeitet sie in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Sie erhielt dafür monatlich durchschnittlich 88 Euro netto. Gleichzeitig wurde ihr Hilfe für junge Volljährige in Form der Unterbringung in einem Wohnheim gewährt. Hierfür zog der beklagte Landkreis sie für den Zeitraum von Januar 2015 bis Juli 2016 zu einem monatlichen Kostenbeitrag von 75 Prozent ihres Einkommens heran. Diesen Beitrag setzte er im Widerspruchsbescheid auf durchschnittlich 67 Euro im Monat fest und verlangte von der Klägerin eine Nachzahlung von 1.373,95 Euro.

Die dagegen von der Klägerin erhobene Klage hatte in allen Instanzen Erfolg.

Der Bescheid für die Kostenbeteiligung war rechtswidrig. Zum einen, weil die Behörde nicht das Jahreseinkommen des Vorjahres zugrunde gelegt hatte. 2014 hatte die Klägerin erst im Dezember ihre Tätigkeit aufgenommen. Zum anderen, weil die Behörde kein Ermessen ausgeübt hatte. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts habe der Landkreis als Jugendhilfeträger außerdem zu Unrecht von seinem Ermessen keinen Gebrauch gemacht. Danach könne ein geringerer Kostenbeitrag erhoben oder gänzlich von der Erhebung abgesehen werden, wenn das Einkommen aus einer Tätigkeit stamme, die dem Zweck der Jugendhilfeleistung diene. Dies wäre aber hier der Fall. Zweck der Hilfe für junge Volljährige sei in erster Linie die Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung. Auch solle die selbstständige und eigenverantwortliche Lebensführung gefördert werden. Die Tätigkeit der Klägerin in einer Werkstatt für behinderte Menschen diene diesem Zweck. Daher könne nicht automatisch das dort erzielte Einkommen für die Kostenbeteiligung herangezogen werden.

Informationen: www.anwaltauskunft.de